Erschienen in: Auskunft 21(2001)75-78
Dieter E. Zimmer ist zumindest Lesern der Wochenzeitung "Die Zeit" sowie Bibliothekaren bekannt. Veröffentlichte er doch, früher auch Redakteur der "Zeit", ab 12. September 1997 (Nr. 38) eine Artikelserie unter dem Titel "Die Digitale Bibliothek". Für diese Artikelserie bekam Zimmer 1998 den Helmut-Sonntag-Preis der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände. (1) Gewürdigt werden durch diesen Preis "Publizisten, die das Bibliothekswesen durch herausragende Einzelbeiträge oder durch die Kontinuität sachgerechter Berichterstattung wirkungsvoll gefördert haben".
Das hier zu besprechende Buch enthält neben anderem die überarbeiteten Fassungen dieser Artikelserie. In der folgenden Tabelle sind die Überschriften der Buchkapitel den betreffenden Titeln der fünf Zeit-Artikel gegenübergestellt. Sie verdeutlichen ein Stück Wandel: Sind die Überschriften der Zeit-Artikel noch wesentlich offener formuliert, merkt man den entsprechenden Kapitel-Überschriften des Buches schon einen gewissen Abschluß der angenommenen Entwicklung an.
Titel des Zeit-Artikels |
Titel des Buchkapitels |
Bauarbeiten an einem Luftschloß |
Alles, immer, überall - die große virtuelle Weltbibliothek (S. 23ff) |
Auf der Suche nach dem vollen Text |
Literatur aus der Steckdose (S. 42ff) |
Vom Zettelkasten zum OPAC |
Der OPAC und seine Tücken (S. 89ff) |
Die langsame Loslösung vom Papier |
Zeitschriften unterwegs von P nach E (S. 77ff) |
Text in Tüttelchen |
Hypertext oder Absage an das Lineare (S. 52ff) |
Manche der anderen Kapitel des Buches sind ebenfalls überarbeitete Artikel aus der "Zeit". Trotzdem hat es sich gelohnt, die Texte in einem Buch zusammenzufassen. Einmal wird so die heute leicht mögliche Mehrfachverwendung von elektronisch erfaßten Texten demonstriert. Aber im Ernst: Zimmer's Texte, fundiert und kenntnisreich, gut lesbar und verständlich, fassen das nötige Wissen für diejenigen zusammen, die alle Aspekte der digitalen Umwälzung im Bereich der Bibliotheken und des elektronischen Publizierens verstehen wollen oder müssen, ohne daß man sich in die Tiefen der EDV und Technik begeben muß.
So kann man das Buch durchaus als eine Art Lehrbuch zum Thema "Elektronisches Publizieren und digitale Bibliotheken" ansehen, auch für die Kunden der Bibliotheken oder für Geisteswissenschaftler, die glauben, doch noch vor dem vollen Hereinbrechen der digitalen Revolution pensioniert zu werden. (2) Auch für den Kundigen enthält das Werk viele kleine Details, die man bisher nicht wußte, z.B. zur Geschichte des @-Zeichens.
Der Hauptteil enthält neben den oben genannten 5 Artikeln weitere zu elektronischen Enzyklopädien, zur Informationsflut sowie zu Formaten und Codes der elektronischen Textdarstellung. Beendet und abgerundet wird dieser Hauptteil durch Aufsätze zum Urheberrecht im Internet und zum ungelösten Problem der Erhaltung elektronischer Dokumente.
Im zweiten, etwas spezielleren Teil des Buches werden dann z.B. Metadaten behandelt ("Auf der Suche nach dem Kern von Dublin", S. 205). Aber auch eine sehr nützliche "Gebrauchsanweisung für OPACs" findet sich hier (S. 243-256). Die Befolgung der zehn Grundregeln am Ende gehören in jede Veranstaltung zur Vermittlung von Informationskompetenz, wie überhaupt die gesamte Lektüre des Buches die eigene Medienkompetenz fördert.
Abgeschlossen wird das Buch durch einen kommentierten Link-Katalog (S. 269), der auch im Internet angeboten und aktuell gehalten wird: www.zeit.de/digbib/ . Ein Register (siehe auch das Kapitel "Register und Index", S. 256) dient als gleichzeitiges Abkürzungsverzeichnis.
Kleine Unrichtigkeiten sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. XML (eXtensible Markup Language) ist nicht wie HTML eine "DTD für Webseiten" (DTD = Dokumententypen-Defintion), auch kein "Nachfolgekandidat" für HTML, sondern ein vereinfachtes SGML (Standard Generalized Markup Language) (3), eine zukünftig nutzbare Möglichkeit für Web-Autoren, sich ein eigenes HTML zu definieren (S. 208). Auch das Kürzel Z39.40 ist nicht die für den elektronischen Austausch bibliographischer Daten wichtige ANSI-Norm, diese heißt Z39.50 (S. 205-206).
Den Literatur- und Sprachwissenschaftler Zimmer interessieren besonders sprachliche Ungenauigkeiten ("Seiten und Sites"), natürlich auch Literatur im Netz und die Darstellung von - auch fremdsprachigen - Texten und deren grundlegende Codierung auf dem Rechner.
Erörtert werden zum Beispiel auch die "Adjektive" "Digital ? Elektronisch ? Binär ? Virtuell ? Cyber ?"(S. 200ff.), die häufig fälschlicherweise synonym verwendet werden. Anscheinend war dies für Zimmer auch der Grund, für den Titel seines Buches nicht den Titel der Artikelserie zu verwenden. Die Bibliothek der Zukunft wird eben nicht nur digital,.... sein. Sie muss "flexibel sein, bis in die Raumaufteilung."(S. 11) Übrigens, wenn Zimmer schreibt: "Seit zwei Jahrzehnten spuckt die Idee einer universellen virtuellen Bibliothek durch einige vorausschauende Köpfe ..." (S.23), sollte es nicht unerwähnt bleiben, daß das Leitbild der "Großen virtuellen Weltbibliothek" schon viel älter ist. Die mit dem World Wide Web häufig auftauchende Assoziation eines "World Brain" läßt sich in seinen Wurzeln mindestens bis zu H.G. Wells (1937) und Wilhelm Ostwald zurück verfolgen. (4)
Das Buch schafft Verständnis für die Rolle und Probleme der Bibliotheken in Vergangenheit und Zukunft. Für Zimmer ist die Elektrifizierung der Kataloge "kein neumodisches technisches Schnickschnack". Der alte Zettelkasten als Katalog hat ausgedient, für manchen vielleicht betrüblich, beinhaltet er doch als "Kunstform" häufig auch Teile der Geschichte eines Bestandes, ja einer Bibliothek. (5) Die Bibliothek der Zukunft wird für Zimmer ein Informations- und Kommunikationszentrum (S. 14f), die Bibliothekare werden zu "Bibliothekar-Informatiker-Dokumentalisten".
Dieses informative und locker geschriebene Buch kann allen empfohlen werden, die sich für eine der tiefgreifendsten Änderungen innerhalb unserer Wissenskultur interessieren.
Thomas Hapke
(1) Diese Serie ist wieder abgedruckt unter: Dieter E. Zimmer: Die Digitale Bibliothek : eine fünfteilige Artikelserie für Nutzer und Verächter der Computernetze. In: Bibliothekspolitik in Ost und West : Geschichte und Gegenwart des Deutschen Bibliotheksverbandes / hrsg. Von Georg Ruppelt. Frankfurt a.M.: Klostermann, 1998. S. 265-317.
(2)Einen tieferen Einstieg in das Thema bieten die Artikelserie von Diann Rush-Feja: Digital Libraries : Informationsform der Zukunft für die Informationsversorgung und Informationsbereitstellung ?. B-I-T-Online 2(1999)143-156, 281-306, 435-446 und 3(2000), H. 1 und H. 2, sowie das englischsprachige Buch von William Y. Arms: Digital libraries. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2000.
(3)Eine nützliche, in der Regel nur innerhalb von Universitäten verfügbare Einführung in SGML ist die Schrift von Ulrike Kirchgesser: Texterfassung mit SGML und Style Sheets : elektronische Texterfassung auf dem Weg zur Standardisierung. Hannover: Regionales Rechenzentrum für Niedersachsen, 1999. Vgl. auch Abschnitt 4.1. meines Aufsatzes "eXamples of Modern Libraries : Publikation, Dokument und Format (XML-PDF) in der Bibliothek der Zukunft. ABI-Technik 19 (1999) 244-249
(4)Vergleiche z.B. H.-D. Hellige: Weltbibliothek, Universalenzyklopädie, Worldbrain : zur Säkulardebatte über die Organisation des Weltwissens. Bremen, University, artec-Paper Nr. 77, June 2000 (erscheint in Technikgeschichte 2000, 67, 4) und auch Thomas Hapke: Wilhelm Ostwald, the "Brücke" (Bridge), and connections to other bibliographic activities at the beginning of the twentieth century. In: Proceedings of the 1998 Conference on the History and Heritage of Science Information Systems / Edited by Mary Ellen Bowden, Trudi Bellardo Hahn, Robert V. Williams. Medford, NJ: Information Today, 1999. S. 139-147 (Elektronische Version in http://www.chemheritage.org/HistoricalServices/ASISbook.pdf)
(5)Vgl. S. 27 und Nicholson Baker: Verzettelt. In: Nicholson Baker: U&I : Wie groß sind die Gedanken ? Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. Hier: S. 353-429.
Copyright: Thomas Hapke, 20.12.2000