Die Diskussion von Kompetenz und Bildung wird im Bereich der Medienpädagogik besonders im Rahmen der Medienbildung geführt. Auch im Rahmen von Diskussionen, ob es ein spezifisch digitales Denken gibt bzw. inwieweit die digitalen Medien unser Denken und Lernen verändern, wird aus bildungswissenschaftlicher Sicht mit diskutiert, so z.B. von Gabi Reinmann: Digitales Denken – die Sicht der Erziehungs-wissenschaften oder: Freiheit und Zwang im digitalen Zeitalter.
Schaut man nun in ein vor kurzem erschienene Textsammling zum Thema Bildung mit dem Titel "Was ist Bildung? Eine Textanthologie." (Hrsg. Heiner Hastedt, Reclam, 2012), findet man auch hier Anknüpfungspunkte, um Informationskompetenz zu verorten, z.B. über den klassischen Bildungsbegriff hinausgehend im Werk von Michel Foucault, dessen "Sorge um sich" als Teil von Bildung die Selbstbildung und Reflexion betont (S. 15, S. 34ff). Zu dieser gehört eine kritische Funktion von Bildung (S. 39), ausserdem wird die Bedeutsamkeit des Zuhörens und des Schreibens als Aneignungsmethoden hervorgehoben (S. 45).
Im Buch von Sönke Ahrens mit dem Titel "Experiment und Exploration : Bildung als experimentelle Form der Welterschließung" (Bielefeld: transcript, 2011), sind mir weitere Verbindungen zwischen Bildung und Informationskompetenz aufgefallen. Ahrens‘ Buch ist für mich deshalb etwas Besonderes, weil es den seltenen Versuch unternimmt, Naturwissenschaft und Technik mit Bildung über Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte zu verbinden. Ahrens nutzt die Wissenschafts- und Technikforschung sowie die Beschäftigung mit der Geschichte der (Natur-)Wissenschaften, um über Bildung zu reflektieren und den Bildungsbegriff neu zu bestimmen.
Eine weitere Beziehung zwischen Information – oder In-formation, eine Schreibweise, die die Nähe zu Bildung besonders sichtbar macht – und Form ist vom Autor dieses Blogs in einem gerade erschienenden informations- bzw. wissenschaftshistorischen Aufsatz angerissen worden: Wilhelm Ostwald’s Combinatorics as a Link between In-formation and Form (Library Trends 61(2012)2, 286-303.
Für Interessierte hier noch ein paar, etwas längliche Auszüge aus meiner Rezension (Auskunft (32 (2012) 112-119) zu Ahrens‘ Buch:
Über das Feuilleton hinaus ist der Begriff Bildung ständig in der Diskussion, die Literatur zum Thema ist kaum zu überschauen. Ahrens geht in seinem Buch von einem „transformatorischen Bildungsbegriff“ aus (S. 9f). Hier sind Lernprozesse dann Bildungsprozesse, wenn diese die Lernvoraussetzungen transformieren, also auch eine Reflexion über das eigene Wissen und Können in Gang setzen. Implizit setzt Bildung hier auch ein Scheitern des Lernens voraus (S. 17ff), das hier aber als positiv verstanden wird. Ahrens teilt seinen transformatorischen Bildungsbegriff mit der Forschungsrichtung der Medienbildung, die Bildung als Transformationsprozess von Haltungen zum Selbst und zur Welt bestimmt.
"Es geht bei der Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Wissenschaft nicht darum, eine kritische Distanz zum Geltungsanspruch der Wissenschaften zu gewinnen, sondern um die Fähigkeit, dem Anspruch der Wissenschaft auf Mitteilung gerecht zu werden. Das heißt nicht einfach, zu hören, was sie zu sagen hat, sondern zu begreifen, was durch sie in welcher Form geteilt wird und wer oder was durch sie mitzuteilen und nicht mitzuteilen in die Lage versetzt wird." (S. 292)
Für mich könnte man mit diesem Zitat fast auch Informationskompetenz als kritische Haltung beschreiben. Reflexion über das eigene Lernen, über die Entstehung von Information und Wissen sowie die erkenntnistheoretische Problematik der Bewertung und Gültigkeit von Wissen und damit über die soziale Konstruktion von Wissen und Wissenschaft sind auch bei Aktivitäten zur Förderung von Informationskompetenz angebracht. Nur so kommen Themen wie Peer Review, Plagiate und die Problematik von Zitatanalysen in den Blick. Das Lernen und die Reflexion über Information werden immer wichtiger.
Ein wichtiger Aspekt der gewaltigen Entwicklung der modernen Wissenschaften, auf den Ahrens an mehreren Stellen verweist, ist die Tatsache, dass immer mehr Bereiche der Welt von der Wissenschaft erfasst werden und es kaum noch unerschlossene Bereiche gibt. Welt ist dabei für Ahrens „der umfassende Begriff für alles sinnhaft Zugängliche“ (S. 98). Implizit wird für mich damit auch die Informationsflut thematisiert. Wenn man z.B. als Wissenschaftler auf einem ganz speziellen Gebiet forscht und dazu recherchiert, stößt man nach Ahrens als explorativer Wissenschaftler
„überall auf sich selbst und seine eigenen Ergebnisse. Das lässt einem nur drei Möglichkeiten: Erstens die Flucht ins Imaginäre, bei der man sich wie die Wirtschaftswissenschaft der letzten dreißig Jahre seinen zu explorierenden Gegenstand selbst erfindet […] Oder zweitens das Betreiben von Wissenschaft wie ein Notar, indem man ungeachtet jedes Erkenntniswertes zitierfähige Texte produziert. Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass man sich dieser Tatsache bewusst und den sich daraus ergebenen Paradoxien stellt. Das Experiment ist die technisch-soziale Lösung für den paradoxen Versuch eine erschlossene Welt zu erschliessen“ (S. 254, vgl. dazu auch S. 287f).
Ahrens übernimmt aus den Diskussionen der jüngeren Wissenschafts- und Technikforschung den Begriff des Experiments und deutet diesen als eine wichtige Form der Welterschließung, die er – auf das Individuum bezogen – Bildung nennt. Ein Experiment wird dabei von Ahrens nicht nur naturwissenschaftlich gedacht. Für ihn ist das Nachdenken "die einfachste und selbstverständlichste (und daher selten bedachte) Form des Experimentierens" (S. 278). Nicht zufällig kommen für den Rezensenten damit auch Bereiche des eLearnings in den Blick, die die Reflektion fördern sollen, wie z.B. das Schreiben eines Weblogs als Lern- oder gar Bildungs-Tagebuch oder die Nutzung von sogenannten ePortfolios. Diese sind Experimente, die das eigene Lernen beobachten und dabei ein bildendes Element enthalten.
Das Buch untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Bildungsprozessen und (natur-) wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen. Als Bildungsinhalte wurden Technik (und Naturwissenschaften) traditionell lange vernachlässigt. Bei Ahrens rückt besonders die Rolle der Technik in den Fokus, die im Rahmen des eLearnings heutzutage bei Lern- und Bildungsprozessen kaum noch wegzudenken ist. Es wäre hier z.B. eine wichtige Frage, ob die Nutzung von Technik Bildung bewirken kann. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Erkenntnis, Bildung und Technik schließt die Frage nach dem Medium der Erkenntnis und damit die Frage der Medien- und Informationskompetenz mit ein.
Didaktische Lern- und Lehrszenarien, in denen Technik eine so entscheidende Rolle wie beim eLearning spielt, lassen sich z.B. mit einem Element moderner Wissenschafts- und Technikforschung, der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie beschreiben. Diese u.a. von Latour mit entwickelte Theorie weist auch nicht-humanen Akteuren wie Medien, Maschinen usw. eine wichtige Rolle bei der Kommunikation im Bereich Technik und Gesellschaft zu. Diese Theorie scheint damit auch für den Bildungsbereich nutzbar zu sein. Im Bereich der Informationswissenschaft ist Latour bisher eher wenig rezipiert worden. Latours ethnografische Feldstudien in naturwissenschaftlich-technischen Laboren zeigten, wie wissenschaftliche Fakten als „Tat-Sachen“ – auch über wissenschaftliche Artikel, ein Beispiel für von Latour sogenannte „immutable and combinable mobiles“ – entstehen, Verbreitung finden und sich durchsetzen. Die in wissenschaftlichen Artikeln beschriebenen Forschungsergebnisse repräsentieren immer eine über mehrere Zwischenstufen vermittelte oder gar ausgehandelte Realität.
Vor dem Hintergrund system- und formtheoretischer Grundlagen von Niklas Luhmann und George Spencer-Brown arbeitet Ahrens an der Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung. Nachdenken über Differenzen hat aber auch etwas mit Information zu tun, die bei Gregory Bateson über eben diese Differenz definiert wird: "Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht." Für Ahrens erfolgt Lernen durch Unterscheidung. Man unterscheidet zwischen dem, was man schon weiss oder kann, und dem, was in der Welt noch unerschlossen vor einem liegt. Liegt der Schwerpunkt auf dem Unerschlossenen spricht Ahrens von Exploration (Erkundung) als Methode der Welterschließung. Lernen ist für Ahrens daher die explorative Form der Welterschliessung.
Viele der Unterscheidungen, die Ahrens behandelt, sind auch für die philosophische Behandlung von Information spannend, wie "Kopieren und Modifizieren", "Repräsentation und Übersetzung", "Zwischenglieder und Mittler", "Werkzeuge und Technik" oder "Sammeln und Versammeln".
Im letzten Teil des Werkes werden die arbeitsteilig-gemeinschaftlichen Ergebnisse der wissenschaftlichen Welterschließung mit der individuell erfolgenden Welterschließung in Form von Bildung und Lernen zusammengebracht. Bildung und Lernen, also auch Experiment und Exploration, werden wie zwei Seiten einer Medaille gesehen. So wie die wissenschaftliche Exploration dem wissenschaftlichen Experiment vorausgeht, geht das Lernen der Bildung voraus (S. 268-271), ohne "Sammlung" keine "Versammlung" (Latour, s. bei Ahrens auch S. 169).
Aufgrund der verwendeten „dekonstruktiv aufbereiteten Begrifflichkeit“ (Klappentext) leidet etwas die Zugänglichkeit des Buches für einen unbedarften Leser. Als solcher fühlte sich jedenfalls der Rezensent beim Lesen des Buches angesichts vieler doch sehr abstrakter und hochkomplexer Passagen. Ganz im Sinne des französischen Philosophen Jacques Derridas werden interessante Texte zahlreicher Autoren miteinander verwoben und bis ins Detail kommentiert, um damit den Gedankengang des Autors zu belegen. Wer es dennoch wagt, das Buch zu lesen, wird reichlich belohnt! Der etwas eigene Stil des Autors, mit oft tief verschachtelten Sätzen, erfordert aufmerksames, konzentriertes Lesen. Hier kann man mit dem Autor aber auch auf Bernard Stiegler verweisen:
"Dass das, was heute Aufmerksamkeit erlangt, wozu auch das gehört, was gezielt darauf hin entwickelt worden ist, Aufmerksamkeit zu erlangen, etwas ist, was damit notwendig in einem Konflikt zum Nachdenken steht, darauf verweist Stiegler, wenn er als Technikphilosoph die besondere Bedeutung der Pädagogik bei der Einübung von Techniken der Aufmerksamkeit vom Denken und von der Technik beschreibt und sie als etwas versteht, das in direkter Konkurrenz zu anderen ‚Technologien der Aufmerksamkeitssteuerung’ (Stiegler 2008) steht." (S.281).
Die hier beschriebene moderne Aufmerksamkeitsproblematik spielt ja auch im Bereich Informationskompetenz eine Rolle, z.B. beim Verhältnis zwischen Google und Bibliotheken als Institutionen.
Sönke Ahrens’ Buch enthält eine Fülle von Anregungen zum weiteren „Nach-Denken“ (vgl. S. 278) nicht nur für die Bildungsphilosophie und Erziehungstheorie, sondern ist anregend auch für die Wissenschaftsforschung und Technikphilosophie. Das Buch hilft einem auch bei der Reflektion über Informationskompetenz als bibliothekarische Dienstleistung, die sich in Richtung einer Art von Informationsbildung entwickeln könnte.