Schweizer Kollegen publizieren eine neue ambitionierte Zeitschrift mit dem Titel "027.7 Zeitschrift für Bibliothekskultur / Journal for Library Culture". Bei mir ist der Untertitel Bibliothekskultur besonders gut angekommen, da ich ja auch gerne von Informationskultur rede. 😎 Außerdem habe ich gerade einen Aufsatz für eine amerikanische Bibliotheks-Zeitschrift über einen der ersten Förderer der Dezimalklassifikation in Deutschland geschrieben, der in seinen Briefen an Mitstreiter DK-Notationen als Ersatz für manche Worte verwendet, wodurch mich der Titel der Zeitschrift zusätzlich angesprochen hat.
Mein Hamburger Kollege Werner Tannhof, der im Blog der Universitätsbibliothek der Helmut-Schmidt-Universität immer wieder interessante Beiträge publiziert, hat zudem einen Artikel mit dem Titel "Das deutsche wissenschaftliche Bibliothekswesen jenseits der Bibliothek 2.0 – Zukunft jetzt gestalten" beigesteuert. Da Werner Tannhof mich im Vorfeld des Artikels nach meiner Sicht gefragt hat, wie die Bewegung zur Bibliothek 2.0 die Bibliotheksentwicklung in Deutschland geprägt habe, erlaube ich mir hier noch ein paar Anmerkungen.
- Die Existenz eines wirklichen Mehrwertes von Bibliothek-2.0-Aktivitäten für die Nutzenden von Bibliotheken ist sicher schwierig zu messen. So kann man auch für das Blog der TUHH-Bibliothek fragen, wieweit dessen Inhalt wahrgenommen werden – gefühlt manchmal eher weniger! Trotzdem ist es ein wichtiges Instrument des Marketing von Neuigkeiten. Als Bibliothek hat die TU-Bibliothek beim Thema Web 2.0 wahrscheinlich auch die Entwicklung der Universität in Richtung Social Media mit beeinflusst. Die TUHH als Institution Universität fängt erst seit letztem Jahr in diesem Bereich vermehrt Aktivitäten an!
- Bei vielen Aktivitäten von Bibliotheken im Bereich IT sind Bibliotheken oft Early-Adopter! Und dies gilt teilweise auch für das Thema Web 2.0! So z.B. auch beim eLearning, wo an der TUHH auch die Bibliothek mit eine treibende Kraft war, Lernmanagement-Systeme – und besonders als Open Source Variante – einzuführen. Die von Werner Tannhof in einem Blog-Artikel zitierten Thesen zum Scheitern wissenschaftlicher Bibliotheken von Steve Coffman finde ich zu kritisch. Innovationen brauchen auch Freiräume und ein Aus- und Rumprobieren und kein sofortiges Schielen auf Nachhaltigkeit! Man kann das auch alles anders verkaufen als Coffmann, Bibliotheken sind und waren immer am Puls der Zeit, so beim Erstellen von Webverzeichnissen und bei den Informationsvermittlungsstellen – Bibliotheken sind damit aber auch immer Teil der allgemeinen Entwicklung gewesen. Insgesamt ist es sicher auch viel zu früh, um endgültig über Beiträge der Library 2.0 Bewegung auf die Bibliotheksentwicklung zu sprechen! Spannend und ein positives Beispiel ist übrigens hier auch das Open Science Lab der TIB Hannover.
- Das Thema Informationskompetenz profitierte für mich von Bibliothek-2.0-Aktivitäten dadurch, dass das Eigentliche oder der Kern von Informationskompetenz schärfer gefasst werden kann. Der ständige Wandel der Informationstechnologie wirft eben die Frage auf, welche Fähigkeiten und Eigenschaften des Individuums im Bereich Informationskompetenz wichtig bleiben. Lambert Heller sieht Informationskompetenz-Förderung als Teil eines veränderten Bibliotheksmarketing, in dem alle in Bibliotheken Arbeitenden ihre eigene Arbeit und die damit verbundenen Herausforderungen öffentlich (beispielsweise in Blogs) darstellen und wirklich selbst Erfahrungen im Web 2.0 sammeln. Nur durch für Interaktion auf Augenhöhe und Mitagieren in virtuellen Gemeinschaften sei es ohne pädagogischen Duktus und in informellem Rahmen möglich, durch Authentizität, Aufbau von Reputation und Nähe zur jeweiligen Gemeinschaft die Entwicklung von Informationskompetenz bei deren potentiellen Mitgliedern zu fördern und gleichzeitig die Reputation der Einrichtung Bibliothek zu erhöhen. Das heisst auch Mitforschen und Mitpublizieren, um aufgrund eigener Erfahrungen Beratung und Publikationsunterstützung geben zu können.
- Dass das Thema Lernort für Werner Tannhof zu den großen Herausforderungen von Bibliotheken gehört, ist sicher nicht falsch. Es ist als Thema eigentlich aber eher und auch ein Thema für die Universität insgesamt. So gibt es an der TUHH im neuen Hauptgebäude studentische Lern- und Gruppenarbeitsräume, die nichts mit der Bibliothek zu tun haben. Trotzdem hoffe ich und als TU-Bibliothek arbeiten wir ständig daran, dass bei einer Universität als Institution eine Bibliothek weiterhin immer mit gedacht wird.
- Eindeutig positive Beiträge von Bibliothek 2.0 zur allgemeinen Bibliotheksentwicklung sind natürlich die Web 2.0 Kataloge, heute Discovery-Systeme genannt, aber (!!) genauso wichtig ist heutzutage die Pflege der Knowledge Base von Link Resolvern – das ist fast wichtiger als klassische Katalogisierung bzw. das ist Katalogisierung heute!
- Ein sehr wichtiger Aspekt von Bibliotheksentwicklung durch Bibliothek 2.0 ist der Einfluss auf die interne Bibliotheksentwicklung. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen können sich durch Blog-Beiträge u.a. an dem beteiligen, was man früher Öffentlichkeitsarbeit nannte. Schon lange nutzt die TU-Bibliothek intern ein Wiki, womit Kommunikationsmöglichkeiten und Mitarbeiterinnen-Beteiligung geschaffen wurden, die vorher so kaum möglich waren! In meiner Bibliothek ist das Wiki neben seiner Funktion zur internen Dokumentation Instrument für die Begleitung von Projekten, Planung von Veranstaltungen und manchmal sogar strategischen Diskussionen. Auch die Möglichkeiten für alle in Bibliotheken Arbeitenden auf dem Laufenden zu bleiben, wurden durch Web 2.0 Tools wesentlich erhöht. Klar, nicht jeder nimmt dies zu jeder Zeit wahr, mancher vielleicht auch gar nicht.
Zum Abschluss noch ein paar persönliche Bemerkungen zu Stellen, die mir im Text von Werner Tannhof besonders aufgefallen sind:
- Werner Tannhof bezeichnet mich als eine "’Gallionsfigur‘ der deutschen IK-Vermittlungsszene" (S. 6). Ganz abgesehen davon, dass man Informationskompetenz nicht vermitteln sondern nur fördern kann: In Wikipedia habe ich gelernt, dass Galionsfiguren "ein ‚lebendes Aushängeschild‘ eines Vereines oder einer Interessengruppe sind oder eine Führungs- oder Vorreiterfunktion innehaben". Wenn überhaupt dann gilt dies für mich eher im Sinne des ebenfalls bei Wikpedia erwähnten "Aberglauben[s] von Seeleuten", also als jemand, der "den Kurs des Schiffes beobachte
n[t] und es vor Unglück bewahren[t]". 😎
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"Wie es deutsche Bibliotheksleitungen und die Referenten in den Länderministerien zulassen können, dass IT-Abteilungen ihrer Kreativität und ihrem Ehrgeiz freien Lauf lassen dürfen und nicht zumindest auf regionaler Ebene (wie in Sachsen) gemeinsam entwickeln, wird sich einem Aussenstehenden wohl kaum vermitteln lassen."(S. 9)
Hier frage ich mich, wie Kreativität, die in Bibliotheken jetzt und für die Zukunft unabdingbar ist, entstehen soll ohne gewisse individuelle Freiräume. Die Möglichkeiten, eigene Ideen umzusetzen und Erfahrungen zu sammeln (natürlich im weiteren Bereich des eigenen Arbeitsumfeldes), ist für mich legitim, und diese möchte auch ich selbst nicht missen. Sie führen zumindest aufgrund meiner Erfahrungen an der TU-Bibliothek zu sehr guten Ergebnissen bei der Weiterentwicklung der Bibliothek.
Mangelnde Kreativität führt im deutschen Bibliothekswesen aus meiner Sicht auch dazu, dass bei der "Neuausrichtung überregionaler Informationsservices" lieber auf kommerzielle System gesetzt wird, wie die von Adrian Pohl in einem Blog-Beitrag diskutierten Entscheidungen zu DFG-Anträgen zeigen.
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"Dezent wird dabei allerdings von der bibliothekarischen Blogger- und Twitterer-Szene ausser Acht gelassen, dass derartige Aktivitäten zu nicht geringen Anteilen während der regulären Arbeitszeiten erfolgen und nicht unmittelbar mit den eigentlichen beruflichen Aufgaben, nämlich dem täglichen Dienst am ‚Kunde König‘ zu tun haben …" (S. 7)
Auch diesen Satz kann ich leider nicht ganz nachvollziehen: Laufende Weiter- und Fortbildung gehören unablässig zum beruflichen Alltag dazu und damit auch das Lesen von Blogs und die Nutzung von Twitter. Und zum Verarbeiten von Information ist es immer noch am besten, diese für sich festzuhalten und im Optimum für andere auch zur Verfügung zu stellen. Insofern halte ich ein Bloggen und Twittern während der Arbeitszeit in einem gewissen Rahmen sogar für notwendig.
Zudem wird die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer diffuser, was positiv empfunden werden kann aber nicht muss (!). Denn dies hat auch große Nachteile. Um diese zu vermeiden, ist Selbstmanagement gefragt, eine Kompetenz, welche zu erlangen nicht immer einfach ist (bei mir jedenfalls ist deren Erlangen immer noch ein laufender Prozess!).
Klar ist es hier denkbar, dass man zu viel Zeit ins Bloggen und Twittern investiert und Anderes vernachlässigt. Aber die immer vielfältiger werdenden Bedürfnisse von Nutzenden verlangen immer grössere Kompetenzen von in Bibliotheken Arbeitenden, die nur durch ständiges Lernen entwickelt werden können, und dabei kann auch das Bloggen und das Twittern unterstützen.
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