In Deutschland wird über nationale Standards zur Informationskompetenz nachgedacht. Auch auf der letzten Sitzung der AG Informationskompetenz des GBV (AGIK GBV) war dies ein Thema.
Hiermit fasse ich meine Sicht der Dinge, die auch geprägt ist von der Diskussion auf diesem Treffen, zusammen. Vielleicht können einige dieser Gesichtspunkte beim weiteren Verfahren berücksichtigt werden, um das Thema wirklich national voranzubringen!? Das Ganze ist jetzt doch etwas viel geworden, hatte sich aber irgendwie bei mir aufgestaut und ich habe meine Einwände gegen Standards einfach mal runter geschrieben.
Es gibt einen Vorschlag, eine Kurzform der „Standards der Informationskompetenz für Studierende“ des Netzwerkes Informationskompetenz Baden-Württemberg (2006) als nationale Standards zu präsentieren. Dieser soll auf der Frühjahrssitzung der Sektion IV im DBV am 25. und 26.März 2009 in Darmstadt 2009 vorgestellt werden.
Meine Kritikpunkte im Einzelnen:
- Mir ist nicht ganz klar geworden, warum diese Standards sich nur auf Studierende beziehen sollen. Die Standards selbst, die ja nicht viel mehr als eine Übersetzung/Anpassung der ACRL Standards darstellen, können in dieser Form sicher auch für Schüler und sogar für alle Bürger als Grundprinzip Lebenslangen Lernens gelten, wenn man diese Standards denn beibehalten wollte.
- Warum nimmt man sich nicht die Zeit, die ACRL Standards weiterzuentwickeln und dabei auch andere Bibliotheksformen (z.B. Schulbibliotheken, Öffentliche Bibibliotheken) einzubeziehen? Ist nicht eigentlich der DBV insgesamt, vielleicht sogar die BID selbst, der richtige Ort um über „Nationale Grundsätze und Kernaussagen zur Förderung von Informationskompetenz“ nachzudenken. Gibt es wirklich einen Zeitdruck, das, was jetzt vorliegt, nun schnell zu veröffentlichen?
- (So weiss ich auch von einer Initiative der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (DGI), die das Thema Informationskompetenz im Bildungssektor insgesamt zum Ziel hat und hier bei den Schulen anfängt und auch schon eine Denkschrift veröffentlicht hat. Kann man sich hier nicht auch abstimmen, auch mit der DBV-Kommission „Bibliothek und Schule“? Vielleicht ist dies ja auch passiert!?)
- Das Ganze auf nur einer Seite, die eine kurze Präambel sowie dann maximal 5-10 Kernaussagen zur Förderung von Informationskompetenz durch Bibliotheken umfasst, dies sollte doch das Ziel eines Papiers sein! Wenn man das Thema denn wirklich als politisch-strategische Positionierung für Bibliotheken sehen will!? Ich fände es wichtig, bei der Diskussion um Informationskompetenz jeden Eindruck zu vermeiden, als ob Bibliotheken damit ihre Legitimation steigern wollen!
- Ist die Förderung von Informationskompetenz wirklich „eine Kernaufgabe von Bibliotheken“? Bzw. muss es das wirklich sein? Als Moderatoren und Initatoren von Lernprozessen, seien sie denn formeller Art (obwohl informelle Lernprozesse immer wichtiger werden!), fungieren ja sicher nicht primär die Bibliotheken sondern die Schulen und Hochschulen, wenn es nicht über letztere hinausgeht! Vielleicht reicht es ja auch, wenn Bibliotheken durch die Förderung von Informationskompetenz ihre elektronischen und gedruckten Bestände sowie ihre Dienstleistungen verbreiten und vermarkten? Ich bin mir da immer noch nicht ganz im Klaren, ob es hier eindeutige Antworten gibt.
- Grundsätzlich finde ich diese Standards zu eindimensional. Sie stellen doch eigentlich nur den Versuch verbindlicher Groblernziele dar! Informationsprozesse sind ja Teil jedes komplexeren Lernprozesses sowie Teil jeden beruflichen, wissenschaftlichen und auch alltäglichen Arbeitens. Gleichzeitig ist die Vielfalt und Komplexität von Informationsprozessen kaum zu überschauen und abhängig von persönlichen Dispositionen und Verhaltensweisen, fachlichen und kulturellen Kontexten sowie sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen. All dies macht eine wirkliche Standardisierung in diesem Bereich kaum möglich.
- In der amerikanischen Liste ILI-L gab es übrigens gerade einen Thread zum Thema „Alternatives to ACRL IL Competency Standards“. So enthalten die australischen Standards (ANZIL) eine Komponente, die aus meiner Sicht in den ACRL Standards fehlt, nämlich eine kreative Komponente: „Standard Five: The information literate person [sic!] applies prior and new information to construct new concepts or create new understandings“. Da sind wir nicht sonderlich informationskompetent (d.h. hier kreativ) in Deutschland, finde ich! 😎
- Beim fünften Standard der Baden-Württemberger fehlt für mich bei den Indikatoren das Bewusstsein kultureller Fragestellungen (kommt bei ANZIL vor!), also vielleicht besser: „… reflektieren ethische, rechtliche, sozio-ökonomische und kulturelle Fragestellungen beim Umgang mit Informationen“.
- In den Standards vermisse ich auch eine Aussage zum gemeinschaftlichen Erwerben von Wissen und zur Beteiligung an gesellschaftlichen Informations- und Kommunikationsprozessen. Mir gefallen diesbezüglich z.B. die „Standards for the 21st century learner“ der „American Association of School Librarians“ sehr gut.
- Affektive und emotionale Aspekte der Informationssuche fehlen in den Standards völlig, zum Beispiel das Erleben und Aushalten von Unsicherheit bei Informationsprozessen (Kuhlthau).
- Insgesamt gefällt mir der Terminus „Förderung von Informationskultur“, gemeint ist hier für mich zunächst die Förderung eines Bewusstseins für einen effizienten, effektiven und kreativen Umgang mit Informationen als Schüler, Studierende, Bürger, usw., fast besser! Dazu mehr in meinem letzten Blog-Eintrag. Dies habe ich hier schon mal ab und zu erwähnt und ich bin dabei, weiter darüber nachzudenken! 😎
- Mein letzter Kritikpunkt zu „Standards der Informationskompetenz“ betrifft den Plural von Informationskompetenz! Die phänomenographischen Forschung zur Informationskompetenz, die hauptsächlich durch australische Wissenschaftlerinnen wie Christine Bruce und neuerdings Mandy Lupton erfolgte, hat gezeigt, dass es viele unterschiedliche Sichten auf „information literacy“ gibt!
Vgl. auch das e-Journal Italics,Jan 2006 – Volume 5 Issue 1 mit dem Thema: Information literacy: challenges of implementation (Hier besonders der erste Aufsatz!). Es gibt also „information literacies“, wobei dies noch mehr aufgeweitet wird durch Veröffentlichungen zu „digital literacies“, auch hier also der Plural! Zu den ‚digital literacies‘ gehören information literacy, media literacy, computer literacy, visual literacy, … Vgl. dazu folgendes Buch: Digital literacies : concepts, policies and practices / Colin Lankshear & Michele Knobel, eds. New York, NY: Lang, 2008 (Review zum Buch). Am besten gefällt mir aber die im letzten Blog-Eintrag zitierte Definition zur Second-Order Literacy von Luke Tredinnick.