Die Überschrift dieses Beitrages ist mir vor Kurzem beim eigenen sogenannten Warmschreiben oder Free-Writing im Rahmen des Seminars "Wissenschaftliches Arbeiten" an der TUHH in den Sinn gekommen. Gerne nutze ich immer die Gelegenheit, diese Übung im Seminarteil von Birte Schelling mitzumachen. Ulrike Scheuermann (Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln. 2. Aufl. Opladen: Budrich, 2013) spricht auch von Gedanken- oder Fokussprints (S. 78-79). Man schreibt innerhalb von 5 Minuten ohne abzusetzen alles auf, was einem durch den Kopf geht bzw. man wählt vorab ein Thema und schreibt dann.
Kurz vorher hatte ich ein Buch durchgeblättert und angelesen, dass auch in die Richtung des Themas dieses Textes geht: Hornuff, Daniel: Denken designen. Zur Inszenierung der Theorie. Paderborn: Fink 2014. Es passt auch zu dem schönen Aufsatz von Philipp Mayer "Wissenschaftlich schreiben heißt vor allem denken. Zwölf Techniken für mehr Effizienz. Das Hochschulwesen, 58 (2010) 1, 28-32. Diese Blog-Beitrag befasst sich also mit philosophischen Gedanken zum Schreiben.
Hier mein Text vom Warmschreiben:
„Bibliotheken fördern auch akademische Tugenden und Kompetenzen. Eine der wichtigsten akademischen Kompetenzen ist die Reflexion, die Reflexion über das, was Wissenschaft kennzeichnet und wie wissenschaftliches Wissen entsteht. Kurse zum wissenschaftlichen Arbeiten bieten nicht nur Tipps und Rezepte sondern sollen gerade das Nachdenken anregen, über das, was man selbst tut, die Auswirkungen der eigenen Tätigkeit, und das Schreiben von eigenen Gedanken ist Teil des Denkens, Schreiben ist so etwas wie In-Form-Bringen des eigenen Denkens. Es hat also mit Form und Formalisierung des Denkens zu tun, andererseits wird durch das In-Form-Bringen auch deutlich, dass dadurch Denken trainiert werden kann. Beim Schreiben kommt man auf neue Gedanken, Assoziationen und Ähnliches, die einem vielleicht weiterhelfen, sein Tun fortzuentwickeln. Schreiben erleichtert das Denken durch die Ablage und Speicherung von Gedanken.“
Man kann vielleicht auch sagen, „Schreiben ist In-formation des Denkens“, Information hier benutzt im Sinne einer seiner etymologischen Wurzeln als Einprägen bzw. Formen des Denkens, denkt man an die englische Sprache auch als "Bildung" des Denkens, im Sinne von Anregen des Denkens. Denken wird durch das Schreiben aber eben auch in Form gebracht, formalisiert.
Bei der diesjährigen Kleinen Nacht des wissenschaftlichen Schreibens an der TUHH am 11. Mai 2016 (Kurzbericht zur Podiumsdiskussion am Beginn der Kleinen Nacht von Nadine Stahlberg) gab es überraschenderweise auch einen Vortrag zu einer, wie ich es nennen würde, „"Philosophie des Schreibens", der bei mir zu einer Vielzahl von Assoziationen führte. Der Vortragende Bertrand Schütz gestaltet seit Jahren ein Seminar "Literatur und Kultur" an der TUHH.
Der Vortrag von Schütz mit dem Titel "Sprache als Werkzeug" interpretierte, ausgehend von einem Text des Hamburger Philosophen Ernst Cassirer (Form und Technik. In: Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933. Unter Mitarbeit von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois. Hamburg: Meiner, 1985, S. 39–90), Technik – und Schütz sieht Sprache und damit Schreiben hier auch als Teil der Technik – nicht als bloßes Hilfsmittel sondern als Fähigkeit des Menschen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Schreiben sei mehr als Aufschreiben, nicht nur Darstellung und Repräsentation von Erforschtem oder Erkannten sondern immer auch dessen Weiterentwicklung. Sprache und Schreiben schaffen als Werkzeug ein Bild von Wirklichkeit, ordnen diese und formen diese damit auch. Mir fiel dazu sofort Ernst Bloch ein, mit seiner doppelten Bedeutung des "in-formatio", jedes Erkennen hat zwei Seiten, ein Erkennen von Aspekten der Wirklichkeit und eine Veränderung, eine Formierung der Wirklichkeit. "Erkannt wird […] zum Ziel der In-Formatio über die Welt und der Welt selber." (Bloch zitiert in einem meiner Aufsätze)
Wenn einem bewusst ist, dass Schreiben auch eine Form von Weltaneignung ist, so ist klar, dass Schreiben nicht immer leicht fällt. Und vielleicht kann dieses Bewusstsein dabei helfen, dass der Umgang mit dem Schreiben einem leichter fällt?!
Erforschen der Wirklichkeit ist nicht nur ein Auseinandernehmen oder Analysieren sondern nach Cassirer auch ein In-Beziehung-Setzen. Wirklichkeit wird so auch modifizierbar, ein zu bildender Stoff. Bloch würde hier vielleicht sagen, die verschiedenen Möglichkeiten von Wirklichkeit werden so eher denkbar bzw. sichtbar. Für Cassirer ist nach Schütz Erkennen immer auch Anerkennen, der Natur, die damit als etws Eigenständiges gesehen wird, auch hier kam mir sofort eine Assoziation zu Ernst Bloch, der Natur sogar als eine Art Subjekt betrachtet hat.
Im weiteren Gang seines Vortrages ging Schütz dann auf die Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad ein (Barad, Karen (2007): Diffractions: Differences, contingencies, and entanglements that matter. In: Karen Michelle Barad: Meeting the universe halfway. Quantum physics and the entanglement of matter and meaning. Durham: Duke University Press, S. 71–94, hier S. 90-91). Auch hier ging es um die Frage nach der Wirklichkeit: Ist diese etwas Äusseres zum Subjekt oder eine Konstruktion des Subjektes? Barads Antwort ist „sowohl als auch“, die klassische Gegenüberstellung von Objekt und Subjekt, das sich ein Bild vom Objekt macht, ist schon lange überholt. In den Wissenschaften wird durch eine Versuchsanordnung oft erst das Objekt, das erkannt werden soll, das epistemische Objekt, geschaffen. Auch beim Schreiben wird ja letztlich ein Objekt geschaffen, dass repräsentieren soll, was man selbst erkannt hat.
Hier sehen ich auch einen Bezug zum Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, der sich in seinen Werken mit der Epistemologie von Experimentalsystemen beschäftigt. Man findet bei ihm übrigens auch manch interessante kleine Texte zum Schreiben und zu dessen Produkten.
Exkurs: In einem Nebensatz in seinem Vortrag setzte Schütz das Verb "verantworten" mit "fähig sein zu antworten" in eine Beziehung, was mich z.B. an die oft benutzen Worte von der "Verantwortung für die Umwelt" erinnerte, gerade hier bedeutet dies für mich, dass wir beim Umgang mit der Umwelt Antworten finden und diese ins Handeln umsetzen müssen, damit diese erhalten bleibt. Verantworten bedeutet also auch fähig sein zu handeln.
Im letzten Teil seines Vortrages ging Schütz auf einen Text des Physikers Werner Heisenberg ein, wobei schon Barad in ihren Arbeiten sich oft auf den dänischen Physiker Niels Bohr bezieht. Für Heisenberg gibt es durchaus unterschiedliche Beschreibungen der Wirklichkeit, aber nicht unterschiedliche Welten. Die Vielfalt der Weltsichten (Weltanschauungen) als unterschiedliches Verhalten zur Wirklichkeit zu interpretieren, ermöglicht vielleicht einen erkenntnistheoretischen Pluralismus, der nicht in einen Relativismus abgleitet. Bezogen auf das Schreiben ist das Beschreiben der eigenen experimentellen und praktischen Forschung nach Schütz damit immer auch eine neue Sicht, ein Neu-Entdecken des z.B. im Experiment Erkanntem.
Bohr und Heisenberg standen übrigens bei der Auslegung der philosophischen Auswirkungen der Quantenmechanik in den 20er und 30er Jahren des 20.Jahrhunderts in enger Beziehung zueinander. Beide trafen sich im September 1941 in Kopenhagen zu einem Gespräch, zu dessen Inhalt und Missverständnissen es später vielfältige Auseinandersetzungen gab, das sogar von Michael Frayn als Thema eines Theaterstückes benutzt wurde und das sicher auch Einfluss auf die Geschichte der Atombombe im 2. Weltkrieg hatte. Ein Buch mit dem Text des Theaterstücks und mit Aufsätzen, die das Kopenhagener Gespräch aus wissenschaftshistorischer Sicht diskutieren, zeigt, dass auch die historische Wirklichkeit vielschichtig ist.
Mich selbst hat Vieles des Obigen quasi an meine eigene Schreibbiografie, also die Auseinandersetzung mit der eigenen Schreibwirklichkeit, in der Schule erinnert, wo ich vor Jahrzehnten in einem Leistungskurs Chemie eine Facharbeit zum Thema „Das Bohrsche Atommodell und die Heisenbergsche Unschärferelation“ geschrieben habe. In der 5. und 6. Klasse einer Berliner Grundschulen musste ich als Schüler jeweils pro Jahr eine sogenannte Monatsarbeit schreiben. Man hatte einen Monat Zeit, einen Text zu einem selbst gewählten Thema zu schreiben. Meine Themen waren "Die Tiere Afrikas" und "Das Sonnensystem". 😎 Übrigens sind diese Monatsarbeiten eines der wenigen Dinge, die von meiner Schulzeit damals fest in meiner Erinnerung verankert sind.
Wie nach jedem Vortrag bei der Kleinen Nacht gab es auch nach dem von Bertrand Schütz eine Bewegungsanimation des Hochschulsports, von Schütz eingeleitet mit den schönen Bemerkungen "Bewegung hilft nicht nur beim Denken, Denken ist Bewegung" und "Ohne Körper würden wir nicht denken". Und beim Bewegen, so geht es mir oft beim Jongieren, kommt man auf die besten Gedanken.
Im Rahmen der Podiumsdiskussion zur Kleinen Nacht betonte Bertrand Schütz das Phänomen der Latenz beim Schreiben, auch dies ein oft von Bloch genutzter Begriff. Fängt man an wissenschaftlich zu schreiben, ist man eigentlich sofort dabei, auf die Schultern von Riesen zu steigen. Und damit ist die gesamte bisherige Überlieferung der Wissenschaften, auf die man aufbauen kannt, latent und verborgen sowie als Möglichkeit (Bloch, für den Möglichkeit ein wichtiger Begriff ist, würde vielleicht sagen, als "Noch-Nicht") der Bezugnahme in Allem vorhanden, was man schreibt. Und das kann als große Last empfunden werden, von der man sich in einem gewissen Sinne auch frei machen muss, um als Subjekt auch eigene Gedanken denken zu können.
Und hier ist man dann gleich beim Thema Kreativität und der Problematik des Plagiats. In seinem Buch "Homo occidentalis: von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie" (Weilerswist: Velbrück, 2011) zitiert der Soziologe Arno Bammé einen anderen Soziologen William Ogburn mit dem Satz: "Originalität ist zu neun Prozent unzureichende Information und zu neunzig Prozent schlechtes Gedächtnis.“, der eng mit der Latenz-Problematik zusammenhängt.
Dazu passt die Aussage, "dass der Eindruck eigener Originalität meist die Folge mangelnden Lesefleißes ist." (Hermann Heimpel zitiert nach Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt: Suhrkamp 2001, S.90) und die Aussage von Wilhelm Ostwald 1914 in seiner "Modernen Naturphilosophie": "Ferner muss ich einige Worte über die Quelle der von mir vorgetragenen Ansichten und Gedanken sagen. Ich vermag bei den meisten nicht anzugeben, ob ich sie gelesen oder selbständig gefunden habe; denn ich habe nur zu oft feststellen können, wie Einfälle, welche scheinbar ganz selbständig im Geiste auftauchen, nur Erinnerungen an früher Gelesenes oder Gehörtes waren." 😎 Und dies führt dazu, dass man beim wissenschaftlichen Arbeiten von Anfang an mit Tools zur Literaturverwaltung arbeiten sollte, um hier sicherer zu sein.
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