Fake-News und Informationskompetenz

Seit meinem Text zum epistemologischen Kern von Informationskompetenz hat sich für mich durch weltweite politische Entwicklungen die Notwendigkeit verstärkt, über die im Hintergrund stehende philosophische Frage nach dem Wesen von Wahrheit und Wissen, auf den akademischen Bereich bezogen über das Wesen und das Funktionieren von Wissenschaft und Forschung nachzudenken. Spätestens seit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ist das Thema Fake-News ein Dauerbrenner in den Medien.

Bibliotheken schreiben Blog-Beiträge zu Fake News. Fake News ist auch für die IFLA ein Thema. Es gibt z.B. Veranstaltungen mit Titeln wie „Digital Literacy and Fake News“ oder einen schönen Aufsatz mit dem Titel „Fake news and alternative facts: five challenges for academic libraries„.

Der amerikanische Bibliothekar Lane Wilkinson, der in seinem Blog schon einige Artikel zum Thema „post-truth“ geschrieben hat (vgl. auch ein Interview mit ihm), weist auf Twitter auf die problematische Kombination mit dem ACRL Framework, also auch mit Informationskompetenz, hin:

„Periodic reminder that the ACRL Framework is not relevant to the fake news problem. Stop trying to make that a thing.“ (Tweet, 2.8.2017)

und

„No. Just no. Do not try to use the ACRL Framework to teach about fake news. Damn it, librarians, news literacy is serious business.“ (Tweet, 18.6.2017)

Die Bewertung von Informationsquellen im Rahmen von Aktivitäten zur Informationskompetenz passt zwar auch zum Thema Fake News, und sicher ist kritische Informationskompetenz notwendig, um Fake News zu erkennen. Dies reicht aber nicht. Ohne ein Verständnis darüber, wie (wissenschaftliches) Wissen entsteht und was Wahrheit eigentlich ist sowie ohne eine eigentlich immer kontroverse Diskussion, ob es eine objektive Wahrheit gibt bzw. was jeder Mensch unter Wahrheit versteht, ist eine Bewertung von Informationsquellen als Werkzeug zunächst wenig hilfreich.

Die wichtigsten Fragen sind für mich hier:

  • Wie lässt sich in der Gesellschaft, in der Bildung, aber auch z.B. im Bestand einer Bibliothek eine möglichst große Vielfalt und Diversität erreichen und abbilden, die die unterschiedlichen Sichten auf Wahrheit und Realität umfasst?
     
  • Wie kann in der Gesellschaft, in der Bildung, aber auch z.B. im Bestand einer Bibliothek die immense Komplexität der Wirklichkeit sichtbar gemacht werden, so dass man nicht auf einfache Antworten und Lösungen hereinfällt? Bei kaum einem Thema oder Problem gibt es heutzutage, wenn man genauer hinschaut und ggf. tiefer einsteigt, solche einfachen Antworten und Lösungen.

Zum Zusammenhang zwischen Fake-News und Informationskompetenz gehören für mich auch die weltweiten Aktivitäten im Rahmen des sogenannten March for Science, der im Frühjahr 2017 durchgeführt wurde. Diese Bewegung entstand als Antwort auf Tendenzen in Politik und Gesellschaft, die jeweilige Wirklichkeit nur noch populistisch oder als Fake-News wahrzunehmen. Dazu kam, dass wissenschaftliche Erkenntnisse z.B. in der Klima- und Umweltpolitik von unterschiedlichen politischen Lagern auch unterschiedlich als Argument verwendet werden und Wissenschaft hier oft als Legitimation der eigenen Anschauung genutzt wird. Ein weiterer Aspekt besonders in den Vereinigten Staaten war es, dass wissenschaftliche Forschungsförderung durch den Staat teilweise in Frage gestellt wird.

In einer Kritik an den in den USA sehr populären LibGuides findet sich die schöne Formulierung, dass Bibliotheken ihre Bildungsangebote im Bereich Informationskompetenz oft so gestalten, als ob es nur darum geht, in einem „one-stop shopping process“ „solid nuggets of truth“ anzubieten oder durch wissenschaftliches Arbeiten zu erreichen. Auch manche der Plakate bei den Marches for Science offenbarten ein eher unkritisches Wissenschaftsverständnis, so als ob die Wissenschaft (als ob diese so einheitlich wäre!) oder die Wissenschaften nur das Sagen haben müssten, damit wir in einer Welt voller Objektivität und Wahrheit leben können. Deshalb gab es auch eine Menge spannender Diskussionen über eine Teilnahme am March. Ein sehr kritische Sicht bietet Detlef Buchsbaum mit dem Aufsatz „Vom Aberglauben zum Wissenschaftsglauben„. Nicht jede/r hat z.B. so reflektiert und bewusst am March for Science teilgenommen wie der Neurobiologe Björn Brembs, der den Aspekt der „Open Science“ in diesem Zusammenhang betonte. Zum March for Science vergleiche auch den Blog „Wissenschaft kommuniziert“ und den Artikel „Protest gegen alternative Fakten – Wissenschaft geht auf die Straße“ (TAZ, 21.4.2017).

Ein einfaches Plädoyer für die Berücksichtigung von Fakten aus der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft übersieht, dass auch die Wissenschaften politisch-gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen und dass Fakten nicht einfach so entstehen sondern im Wissenschaftsprozess durchaus auch verhandelt werden. Ein spannendes Interview über die Bedeutung von Tatsachen, die immer auch Tat-Sachen sind, also „gemacht“ werden, zwischen der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston und dem Journalisten Georg Mascolo ist im Philosophie-Magzin erschienen: „Tatsachen müssen mühsam erarbeitet werden. Die Wahrheit ist kein Fertighaus, das man über Nacht errichten kann.“ (Lorraine Daston).

Eine Rückbesinnung auf wissenschaftliche Werte und Tugenden, ein Plädoyer für bzw. ein Hinweis auf die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für das Überleben der Menschen auf der Erde erscheint für mich daher wichtig. Hier sind im Folgenden ein paar Themen mit ein paar Literaturhinweisen zusammengestellt, anhand derer eine solche Auseinandersetzung um den Stellenwert von Wissenschaft(en) im Rahmen von Wissenschaftsphilosophie, -theorie, -soziologie und -geschichte möglich wäre.

  • Kontroversen in den Wissenschaften
    • Harker, D. W. (2015). Creating scientific controversies: Uncertainty and bias in science and society. Cambridge: Cambridge Univ. Press.
    • Leuschner, A. (2012). Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft: Eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Analyse am Beispiel der Klimaforschung. Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., [2011]. Science Studies. Bielefeld: Transcript.
    • Liebert, W.-A. (Ed.). (2006). Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion. Science Studies. Bielefeld: Transcript.
  • Wissenschaft und Demokratie
    • Metschl, U. (2016). Vom Wert der Wissenschaft und vom Nutzen der Forschung: Zur gesellschaftlichen Rolle akademischer Wissenschaft. Wiesbaden: Springer VS.
    • Collins, H. M., & Evans, R. (2017). Why democracies need science. Cambridge UK, Malden MA: Polity Press.
    • Latour, B. (2016). Cogitamus. Edition Unseld: Vol. 38. Berlin: Suhrkamp.
    • Schummer, J. (2014). Wozu Wissenschaft? Neun Antworten auf eine alte Frage. Berlin: Kadmos.
    • Hagner, M. (2012). Wissenschaft und Demokratie (Erste Auflage, Originalausgabe). Edition Unseld: Vol. 47. Berlin: Suhrkamp.
  • Verschwörungstheorien
    • Hepfer, K. (2015). Verschwörungstheorien: Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Edition Moderne Postmoderne. Bielefeld: Transcript.
  • Betrug und Fälschung in den Wissenschaften
    • Macrina, Francis L. (2014): Scientific integrity. Text and cases in responsible conduct of research. 4. ed. Washington, DC: ASM Press.
    • Finetti, M., & Himmelrath, A. (1999). Der Sündenfall: Betrug und Fälschung in der deutschen Wissenschaft. Stuttgart: Raabe.

Veranstaltungen im Bereich Wissenschaftliches Arbeiten sollten implizit manche der obigen Themen berücksichtigen.