Rancières "Unwissender Lehrmeister" und Informationskompetenz

Vom französischen Philosophen Jacques Rancière habe ich das erste Mal durch einen Aufsatz von Sönke Ahrens gehört: Ahrens, Sönke: Die Unfähigkeit des Lehrmeisters und die Wirksamkeit des Lehrens (In: Koller, H.-C. ; Reichenbach, R. ; Ricken, N. (Hrsg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn : Schöningh, 2012, S. 129–144). Mittlerweile habe ich das in diesem Aufsatz genannte Buch von Rancière gelesen: Rancière, Jacques ; Engelmann, P. (Hrsg.) ; Steurer, R. (Übers.): Der unwissende Lehrmeister: fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. 2., überarb. Aufl. Aufl. Wien : Passagen-Verl., 2009.

Am Beispiel des französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot (1770 – 1840) philosophiert Rancière mit Jacotot über "intellektuelle Emanzipation", ein Ziel, das letztendlich auch jeder Förderung von Informationskompetenz innewohnt. Jacotot hatte durch Zufall eine Unterrichtsmethode entwickelt, mit der er niederländischen Studenten die französische Sprache beibrachte, ohne dass Jacotot selbst niederländisch sprechen konnte. Grundlage und Medium seiner Methode war eine zweisprachige Buch-Ausgabe eines Textes eines französischen Schriftstellers, durch den sich die Studenten selbst Französisch beibrachten. Für ihn als "unwissenden Lehrmeister" wurden damit grundlegende Annahmen der Pädagogik in Frage gestellt.

Ich muss gestehen, dass ich beim Hören des Titels zuerst an uns in Bibliotheken Arbeitende gedacht habe, die versuchen, Studierenden, Forschenden und Lernenden die Welt der Information aus Bibliothekssicht zu erklären, oft ohne selbst die Lebenswirklichkeiten hinsichtlich der Informationsgesellschaft dieser Gruppen zu kennen oder erfahren zu haben. In einem gewissen Sinne geben wir uns als unwissende Lehrmeister. Beruhigt hat mich dann ein Satz in Sönke Ahrens‘ Aufsatz: „Rancière ernst zu nehmen, hieße also nicht nur zuzugeben: Jeder kann lernen, sondern auch: Jeder kann lehren.“ (S.132) Richtig verstanden ist hier nämlich auch das Konzept des Peer-to-Peer-Lernen angesprochen.

Das dieses Buch insgesamt fürs Bibliothekswesen nicht nur aus meiner Sicht wichtig sein kann, beweist die Aufnahme in die Liste an Werken im "Manual for the Future of Librarianship" des Centers for the Future of Librarianship der American Library Association. Im Folgenden sollen für mich entscheidende Zitate aus Rancières Text kurz erläutert werden. Letztlich bietet Rancière auch so etwas wie eine Theorie der Kommunikation unter Gleichen!

Zugegeben, das Folgende klingt teilweise ganz schön theoretisch, aber wenn man sich mal darauf einlässt, wird einem Manches bewusster und man sieht Vieles gelassener, auch im Bereich der Förderung von Informationskompetenz. Ein Auseinandersetzen mit dem Denken Rancières bietet sich auch als Grundlage einer kritischen Theorie bzw. Kritik von Informationskompetenz an.

Rancière hinterfragt das Erklären. Allein durch diesen Akt wird demjenigen, dem etwas erklärt wird, bewiesen, "dass er nicht von sich aus verstehen kann" (S. 16). "[V]erstehen, das heißt zu verstehen, dass er nicht versteht, wenn man ihm nicht erklärt“ (S. 18). Wichtig aber ist seine eigene Intelligenz zu gebrauchen: "Alle Sätze und folglich alle Intelligenzen, die sie produzieren, sind von gleicher Natur. Verstehen ist immer nur übersetzen, das heißt ein Äquivalent des Textes geben, aber nicht seinen Grund“ (S. 19-20). Emanzipation ist für Rancière der Zwang, seine eigene Intelligenz zu gebrauchen, das "Vertrauen in die intellektuelle Fähigkeit jedes menschlichen Wesens" (S. 24). Und weiter: "Wer lehrt, ohne zu emanzipieren, verdummt. Und wer emanzipiert, hat sich nicht darum zu kümmern, was der Emanzipierte lernen muss. Es wird lernen, was er will, nichts vielleicht. Er wird wissen, dass er lernen kann, weil dieselbe Intelligenz in allen Produktionen der menschlichen Kunstfertigkeit am Werk ist, […]" (S. 28-29). Vielleicht hilft dies, das eigene Wirken bei der Förderung von Informationskompetenz gelassener zu sehen.

Es folgen ein paar weitere Zitate zur Rolle des Examplarischen beim Lernen, auch verbunden mit der Rolle des Buches:

  • "“Man muss etwas lernen und darauf den ganzen Rest beziehen. Und zuerst muss man etwas lernen" (S. 33) als "Prinzip des universellen Unterrichts".
  • "Es geht darum, eine Intelligenz sich selbst entdecken zu lassen. Jede Sache kann dazu dienen." (S. 41).
  • "Das Buch ist abgeschlossen. Es ist ein Ganzes, das der Schüler in den Händen hält, das er vollends überblicken kann" (S. 36 ).
  • "Das bedeutet Alles ist in allem: die Tautologie der Fähigkeit. Die ganze Macht der Sprache ist im Ganzen eines Buches. Die ganze Selbsterkenntnis der Intelligenz liegt in der Beherrschung eines Buches, eines Kapitels, eines Satzes, eines Wortes" (S. 38). Für Rancière ist das Buch "die Gleichheit der Intelligenzen" (S. 52).

Zur Rolle des Lehrmeisters:

  • "Was der unwissende Lehrmeister von seinen Schülern verlangen muss, ist zu beweisen, dass er mit Aufmerksamkeit studiert hat" (S. 44).

    Mit folgendem Satz weist Rancière auch auf eine Nuance des mir immer wieder wichtigen Kerns von Informationskompetenz hin:

    "So kann der unwissende Lehrmeister den Wissenden wie den Unwissenden bilden: indem er verifiziert, das er kontinuierlich sucht. Wer sucht, findet immer. Er findet nicht notwendigerweise, was er sucht, noch weniger, was er finden soll. Aber er findet irgendetwas Neues, das er mit der ‚Sache‘ [Hervorhebung Rancière] in Beziehung bringt, die er bereits kennt. Das Wesentliche ist die kontinuierliche Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit, die niemals nachlässt, ohne dass sich die Unvernunft einstellt […]." (S.46)

  • "Was ein Emanzipierter wesentlich kann, ist, Emanzipierender zu sein: nicht den Schlüssel zum Wissen geben, sondern das Bewusstsein davon, was eine Intelligenz kann, wenn sie sich allen anderen gleich und jede andere als ihr gleich betrachtet." (S. 53).
  • "Um den anderen zu emanzipieren, muss man selbst emanzipiert sein. Man muss sich selbst als Reisenden des Geistes verstehen, ähnlich allen anderen Reisenden, als intellektuelles Subjekt, das an der gemeinsamen Fähigkeit der intellektuellen Wesen teilhat" (S. 47).
  • "Lehren, worin man unwissend ist, bedeutet ganz einfach Fragen stellen dazu, worin man unwissend ist. Man braucht kein Wissen, um derartige Fragen zu stellen" (S. 43).

Hier ein paar Zitate, die man als Kern einer Theorie der Kommunikation sehen kann, beschreiben sie doch die "Kommunikationsituation zwischen zwei vernünftigen Wesen" (S. 80).

  • "Das Denken sagt sich nicht in der Wahrheit aus, es drückt sich in der Wahrhaftigkeit aus. Es lässt sich teilen, es lässt sich erzählen, es übersetzt sich für andere, die daraus eine andere Erzählung, eine andere Übersetzung machen, unter einer einzigen Voraussetzung, nämlich mitteilen zu wollen, raten zu wollen, was der andere gedacht hat, und dass nichts außerhalb seiner Erzählung garantiert, kein universales Wörterbuch sagt, was man verstehen muss" (S. 78-79).
  • "Jede Rede, ob gesagt oder geschrieben, ist eine Übersetzung, die nur Sinn annimmt in der Rückübersetzung, in der Erfindung der möglichen Gründe des gehörten Tons oder der geschriebenn Spur: Wille zu erraten, der alle Hinweise aufgreift, um zu erfahren, was ihm ein vernünftiges Lebewesen zu sagen hat, das ihn als Seele eines anderen vernünftigen Lebewesens ansieht" (S.80).
  • "’Wissen ist nichts, Machen ist alles.‘ Aber dieses Machen ist in fundamentaler Weise ein Akt der Kommunikation." (S. 81).

Noch ein paar schöne Zitate, die bei mir etwas "zum Schwingen bringen":

  • "Das Geheimnis des Genies ist das des universellen Unterrichts: lernen, wiederholen, imitieren, übersetzen, auseinandernehmen, wieder zusammensetzen" (S. 85).
  • "Jeder von uns ist Künstler in dem Maße, als er eine zweifache Vorgehensweise wählt; er begnügt sich nicht damit, Mensch eines Berufes zu sein, sondern er will aus jeder Arbeit ein Ausdrucksmittel machen; er begnügt sich nicht damit zu fühlen, sondern er versucht, das Gefühlte mit anderen zu teilen" (S. 88). Auch ein Plädoyer fürs Bloggen!
  • "Die Intelligenz […] ist die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, die durch die Verifizierung durch den anderen geschieht. Und nur der Gleiche versteht den Gleichen. Gleichheit und Intelligenz sind Synonyme, so wie Vernunft und Wille" (S. 90).

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