Bibliothekskongresse oder Bibliothekartage bieten eigentlich immer eine Fülle von Anregungen für die eigene Praxis oder Reflexion, nicht anders diesmal mein zweitägiger Besuch des Bibliothekskongresses in Leipzig. Zufällig 😎 war ich bei den meisten der Sessions zum Thema Informationskompetenz mit dabei, herausragend dabei diejenige am Mittwoch nachmittag mit Vorträgen, die das klassisch-bibliothekarische Verständnis von Informationskompetenz weiterdenken. Ein weiteres Highlight war für mich die Frage der Zukunft der Bibliotheken, ein Thema, das sich durchaus mit meinem normalen Schwerpunkt vereinbaren lässt. Viele der Vorträge stehen schon jetzt als Folien auf dem BIB-Dokumentenserver zur Verfügung.
Meine Tage in Leipzig begannen mit dem Besuch der Session "Hochschulbibliotheken als Partnerinnen der Lehre", die das Thema Informationskompetenz relativ klassisch behandelte. Jens Renner positionierte das Thema Informationskompetenz an der Hochschule in Ansbach, indem die Bibliothek als eine Art Hilfspolizist agiert, um im Rahmen eines Serviceangebotes an Lehrende Plagiate aufzudecken. Ob dies einem positiven Image der Bibliothek bei ihren Hauptkunden, den Studierenden, zuträglich ist, erscheint mir fragwürdig. Festzuhalten ist dabei aber, dass den Studierenden so zumindest sehr drastisch die Relevanz des Themas Plagiate bewusst wird. Festzuhalten ist auch, dass der Umgang mit Plagiaten als Teil von Informationskompetenz zu sehen ist und Bibliotheken gut daran tun, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Ins Bild passte für mich auch, dass in Ansbach ohne den Besuch einer Erstsemester-Einführung die Studierenden keinen Bibliotheksausweis bekommen. Alles, wie ich finde, sehr drastische Methoden, aber manchmal hilft vielleicht nichts Anderes!? 😎
Thomas Stöber aus Augsburg betonte die Bedeutung von Serviceangeboten zur Literaturverwaltung im Rahmen des Kerngeschäfts einer Bibliothek. Dabei ist dieser tool-bezogene Ansatz ein guter Einstieg, um als Bibliothek auf das Thema Informationskompetenz aufmerksam zu machen. Es sollten nach Stöber nicht nur kommerzielle Werkzeuge berücksichtigt werden. Auch Themen wie Hochschulbibliographie und das gesamte Publikationsmanagement einer Universität können als Teil des Themas betrachtet werden. Sichtbar wurde im Beitrag von Stöber eine wünschenswerte Integration von Bibliotheksservice einschließlich Informationskompetenz-Aktivitäten in den gesamten Lern- und Forschungsprozess. Stöber sprach von einer Vision des "Digitalen Schreibtisches" und präsentierte auch die Ergebnisse seiner Umfrage zur Literaturverwaltung als Bibliothekservice.
Nach einer Vorstellung der Integration der IK-Module der UB Würzburg in die Studiengänge an der Universität durch Jens Ilg stellte Fabian Franke, Bamberg, die IK-Leitlinien des Bibliotheksverbundes Bayern vor. Diese sind schon publiziert, und IK-Standards (meine Sicht darauf) scheinen auch in die allgemeine Diskussion um Bildungsstandards zu passen. In der Diskussion wurde erwähnt, dass das Thema Impact, also die Wirkung von Informationskompetenz-Aktivitäten, in Großbritannien sehr wichtig ist. Der Beitrag von Winfried Sühl-Strohmenger wies darauf hin, dass IK-Aktivitäten Personal, Zeit und Geld kosten. Die spannende Frage allerdings, wie man mit solchen Aktivitäten (neue) Stellen begründen könne und wie dies in offizielle Personalbedarfsberechnungen einfliessen könnten, blieb für mich offen. Gerade Personalbedarfsberechnungen gründen noch immer auf klassischen Bibliothekstätigkeiten und die Begründung für meine eigene Stelle zum Beispiel basiert zu ca. 60% darauf, wieviel gedruckte Medien ich "erwerbe und erschließe", eine Tätigkeit, die real maximal 20 % meiner Zeit ausmacht. Immerhin hat in Baden-Württemberg der Rechnungshof wohl 12% Schulungstätigkeiten für Fachreferenten als angemessen betrachtet, ein natürlich viel zu kleiner Schritt.
Der Vortrag von Annemarie Nilges aus Düsseldorf griff das Totschlag-Argument gegen jegliche IK-Aktivitäten von Bibliotheken auf, dass diese zunächst ihre Zeit darin investieren sollten, ihre eigenen Informationsressourcen und Kataloge zu verbessern, um mehr "Informationsleichtigkeit" zu schaffen, wie es in der Diskussion nach dem Vortrag von Sühl-Strohmenger hieß. Nilges schlug vor, das Wissen um Suchstrategien in die Ausgestaltung von Suchinstrumenten einzubringen. Das analytisch-systematische Informationsverhalten der Bibliothekarinnen passt selten zum kumulativ-entdeckenden von Kunden, die oft hier eine Art Schneeball-System nutzen. Bibliotheken sollten verstärkt mit Datenbanken basierend auf einem Relevanz-Ranking bei ihren IK-Schulungen beginnen, z.B. auch mit Google Scholar. Meiner Meinung nach sollte hier dann aber auch ein Verstehen, wie Relevanz Ranking funktioniert und welche Grenzen es hat, Teil der Aktivitäten sein. Ärgerlich fand ich dann, dass dann von den Düsseldorfern als Beispiel für einen neuen Bibliothekskatalog das sicher nicht schlechte, aber kommerzielle Produkt Primo vorgestellt wurde. Ich konnte mir dazu einen Hinweis auf andere nicht-kommerzielle Web 2.0-Kataloge, wie Beluga, den KUG oder VuFind nicht verkneifen, die am selben Tag auch in einer von mir leider nicht besuchten Session vorgestellt wurden.
Am Nachmittag fand dann eine vom Forum Zeitschriften /GeSIG e.V. organisierte Session zur Zukunft der Bibliotheken statt, die meine Erwartungen weit übertraf. Im ersten von mir nicht vollständig beigewohnten Vortrag von Barbara Lison zur Bedeutung strategischer Lobby-Arbeit von Bibliotheken wurde die Wichtigkeit von Impact-Forschung in der Diskussion erneut betont. Steffen Wawra schlug dann in seinem Vortrag mit dem Titel "Die Bibliothek der Zukunft" einen faszinierenden Bogen von der Sicht der Vergangenheit auf Bibliotheken und Informationstechnik von heute über die Bedeutung von Zukunftsforschung zu aktuellen Leitlinien zur Bibliothekszukunft aus seiner Sicht. Eingeprägt hat sich mir das Bild von Fröschen, die über das Austrocknen ihres Teiches diskutieren. Auch das Nachdenken über die Analogien und den Vergleich zwischen Banken und Bibliotheken erschien mir interessant, war mir doch eher die vergleichende Betrachtung der Entwicklung von Journalismus und Bibliothekswesen geläufig. Für Wawra sind synthetische Informationsdienstleistungen als neue Wissenswerkzeuge wichtiger als IK-Aktivitäten, eine Art Schwarmintelligenz nötig, um Bibliotheken in Lern- und Forschungszyklen zu integrieren (embedded library and partnerships), aber auch die Themen Deep Web und Bibliothek als Raum und Ort bleiben wichtig! Wawra erwähnte auch das Rolex Learning Center der Ecole Polytechnique Fédéral de Lausanne, zu dem vor kurzem auch ein interessanter Zeit-Artikel (Ausgabe 10, 2010) mit dem Titel "Freies Schweifen", erschienen ist (der aber bisher wohl leider nicht online ist). Der Vortrag enthielt eine Fülle von Hinweisen (basierend auf dem Aufsatz von Friedemann Mattern "Hundert Jahre Zukunft — Visionen zum Computer- und Informationszeitalter" in: Die Informatisierung des Alltags : Leben in smarten Umgebungen / edited by Friedemann Mattern. Berlin: Springer, 2007, S. 351-419) auf historische Visionen z.B. auf Albert Robida (1848-1926), der ähnlich – wie Paul Otlet und auch Wilhelm Ostwald – durchaus heutigen Alltag antizipierte.
Danach folgte eine fantastische Show des Niederländers Eppo van Nispen aus Delft, der mit Dutzenden von Folien die Zukunft von Bibliotheken aus seiner Sicht präsentierte.
Die zweite Session zur Informationskompetenz am Dienstag, den 16.3.2010, in Leipzig bestand im Wesentlichen aus drei Berichten aus Nordamerika. Tatian Usova aus dem kanadischen Edmonton in Alberta stellte Bibliotheksaktivitäten zur Unterstützung des Lernens und Lehrens vor, die auch Online Tutorials, Library Subject Guides, Social Software Tools und Spiele mit einschlossen. Kate Brooks aus Minneapolis betonte die Rolle des Personal Information Management als Informationskompetenz-Anknüpfungspunkte für Bibliotheken, griff damit quasi das Thema Literaturverwaltung aus der oben erwähnten Session auf. Thea Lindquist aus Boulder, Colorado, beschrieb den Umgang mit „millennials“ im Rahmen der "undergraduate education", das "Program for Writing and Rhetoric" der University of Colorado und das auch ins Spanische übersetzte Online Tutorial RIOT. Disziplinspezifische Dienstleistungen spielen auch hier eine große Rolle, wenn z.B. für Seminare spezielle Bibliotheks-Sessions und Resource Pages angeboten werden. Insgesamt zeigten diese Beiträge, dass in Nordamerika die Kolleginnen bei allen in der Regel vorhandenen größeren Ressourcen und einer allgemein besseren Wertschätzung für Bibliotheken auch nur mit Wasser kochen.
Eine spannende Diskussion hätte der einzige deutsche Beitrag in dieser Session ergeben können, wenn mehr Zeit gewesen wäre, ein Problem aller Sessions. Warum beschränkt man die Redezeit für alle Vorträge nicht generell auf 15 Minuten und lässt dann Zeit für ausreichende Diskussionen!? Anke Wittich aus Hannover stellte ihr Konzept zum Lehren der Vermittlung von Informationskompetenz vor, erwähnte dabei als Lerninhalt die "Definition von Informationskompetenz" und wurde dann von einem amerikanischen Kollegen darauf hingewiesen, dass Informationskompetenz eigentlich kein methodisches Werkzeug darstelle, sondern "a critical attitude". Auch für mich gibt es nicht eine Definition von Informationskompetenz, sondern diese wird von vielen Menschen durchaus unterschiedlich erfahren, so dass hier der relationale Ansatz von Christine Bruce eher zielführend wäre (siehe auch ihr Beitrag in der Zeitschrift Italics 2006). Es geht nicht nur um den kritischen Umgang mit Information, sondern auch um kritische Reflexion darüber, wie in Bibliotheken Arbeitende Informationskompetenz sehen, vor allem dann, wenn man diese auf ihren Beruf vorbereitet.
Die hier möglich gewesene Diskussion bereitete im Prinzip schon die oben schon erwähnte Session am Mittwoch nachmittag vor, die ein Vorwärtsdenken zum Konzept Informationskompetenz unterstützte. Olaf Eigenbrodt plädierte in seinem vielschichtigen Beitrag für ein Bewusstsein der Vielfalt von Informationskompetenz sowie deren Integration in das bibliothekarische Denken zum gesamten bibliothekarischen Serviceangebot, wie es schon Oliver Schönbeck auf dem Bibliothekartag vonr zwei Jahren in Mannheim getan hatte. Für ihn sind die wichtigsten Informationskompetenz-Förderer die Auskunftsbibliothekare. Bibliotheksservices müssen mehr "embedded" in Forschungs- und Lernprozesse sein, der "teachable moment", einer meiner Lieblingsbegriffe 8-), muss abgewartet und erkannt werden. Schulungsräme dürfen nicht wie Klassenzimmer in der Schule aussehen!!
Philipp Stalder aus Zürich sah Informationskompetenz ebenfalls viel globaler, als es in Schulungsprogrammen von Bibliotheken vorkommt: Verwendung, Verantwortung und Bewertung von Information ist ebenso Teil von Informationskompetenz, die in der Regel sehr fachbezogen zu entwickeln sei. Stalder erwähnte die Gefahr eines Information Literacy Fatigue Syndromes bei Kunden und bei BibliothekarInnen!
Christine Gläser ging dann auf Informationskompetenz im digitalen Kontext ein, wobei allgemeiner der Kontext insgesamt bei Informationskompetenz-Aktivitäten wichtig ist. Ihr ganzheitlicher Ansatz (in ihrem Vortrag tauchte dann auch der Begriff Informationskompetenz+ auf!) schloss neben der Technik auch die Räume (mit von ihr vorgestellten Best-Practice-Lernräumen) sowie das Soziale mit ein. Ein Beispiel dieser Lernräume stellt Learning Grid der University of Warwick da, das ein Bericht in der Konstanzer Bibliothekszeitschrift Bibliothek mit dem Titel ‚Learning Grid und Teaching Grid : Lernen und Lehren an der Bibliothek der University of Warwick‘ von Maren Krähling beschreibt. Beschrieben sind hier Aktivitäten einer Bibliothek, die das Lernen an der Universität in Hinblick auf Studierende und Lehrende unterstützt, ein Traum! 😎 Mir ist beim Lesen dieses Texte nochmals bewusst geworden, dass Innovation unterstützen immer auch heisst, etwas Neues auszuprobieren, wobei dies auf die Person bezogen immer meint, "neu für einen selbst".
In der Diskussion wurde dann gar ganz klassische Kritik (ja, auch diese gibt es immer noch!) zum Thema Informationskompetenz geäussert, diese sei ein weiterer Schritt zur Durchpädagogisierung des Alltags und Entmündigung der Menschen, die bis zur Infantilisierung gehe. Bibliotheken hätten für so etwas keine Zeit und müssten sich auf ihr "Kerngeschäft" konzentrieren. Dass dieses in Gefahr ist, immer mehr wegzubrechen (Rückgang der Ausleihzahlen an gedruckten Medien, weniger Erwerbungsvorgänge wegen Konsortiallösungen, mehr Selbstbedienungsfunktionen für Kunden z.B. durch RFID, Übernahme von Erschliessungs- und Ordnungsarbeiten durch studentische Beschäftigte usw.) wird dabei übersehen. Die Unterstützung von Forschenden und Lernenden als Dienstleistung von Bibliotheken ist das Kerngeschäft!
Was gab es sonst noch Interessantes, was mir aufgefallen ist?
Ich habe mir die Session "Bibliotheken als Akteure im Forschungsdatenmanagment" angehört. Jan Brase von der TIB Hannover brachte in seinem Vortrag einen schöne Defintion des Kataloges als "Portal in einem Netz aus vertrauenswürdigen Anbietern von wissenschaftlichen Inhalten". Forschungsdaten (Vorträge in Leipzig) werden teilweise als wichtiger angesehen als darauf beruhende textliche Arbeiten, die eventuell veralten, während die Daten eher weiterhin zitiert werden. Neu sind nicht der Umgang mit Forschungsdaten, den gab es auch früher, sondern deren Aufbereitung (Metadaten, Identifier), Veröffentlichung und die Datenmengen, die dahinter stehen. Einen faszinierenden Einblick in die Vernetzung diversester Forschungsdaten (Fotos, Objekte, Archiv-Materialien etc.) gab Sabine Thänert vom Deutschen Archäologischen Institut. Auch die OPUS-Dokumentenserver-Software wird in Zukunft eine Fiorschungsdaten-Komponente besitzen, wie Matthias Schulze aus Stuttgart mitteilte. Forschungsdaten können heutzutage auch ganze Experimente und Laborumgebungen sein! Olaf Siegert aus Kiel erwähnte dann auch Problembereiche bei Forschungsdaten. So geben im Wirtschaftsbereich nur wenige Wissenschaftler aus Konkurrenzgründen ihre Daten frei, es gibt Urheberrechtsprobleme, sogar Lizenzprobleme.
Zwei Vorträge der Zukunftwerkstatt konnte ich noch besuchen. Am Stand der Zukunftswerksttatt war das eBook vom eBook-Kolloquium der TUHH-Bibliothek auf diversen eBook-Readern zu begutachten! Lambert Heller führte mit einem Thesenpapier und praktischen Übungen in Mikroformate wie COinS ein. Anne Christensen berichtete von Linked Open Data, ein Vortrag, der vom Programmkomitee abgelehnt worden war.
Bei der Podiumsdiskussion "Dienstleistung trifft Zukunft", bei der die Dienstleistungskommission des dbv und die Zukunftswerkstatt zusammentrafen, wurde betont, dass Bibliotheken in den heutigen Informations- und Kommunikationsumgebungen ihre Inhalte mit dem Label "Information you can trust" als "Konkurrent unter Konkurrenten, als Partner unter Partnern" anbieten müssen. Nicht-Nutzer-Analysen seien wichtig. Aber auch kritische Fragen nach der Möglichkeit die Fast-Foodisierung zu vermeiden wurden gestellt. Unabhängig von der dahinter steckenden Technologie, sei die gelebte Kultur der Kommunikation, des Teilens und Austauschens, das was auch für Bibliotheken relevant ist. Obwohl man den missionarischen Eifer, einen Schuss von Naivität und Kritiklosigkeit mancher Akteure der Zukunftswerkstatt sicher auch kritisch sehen kann, überwiegen für mich eindeutig die positiven Anregungen für das Bibliothekswesen. Dazu passt der Titel einer Präsentation von Karen Blakeman, auf den Sheila Webber in ihrem Blog gerade hingewiesen hat: "Web 2.0: the truth behind the hype".
In der Diskussion mit in Bibliotheken Arbeitenden sind oft zwei Haupt-Ansichten zu beobachten, die einen plädieren dafür, dass sich Bibliotheken an ihre Kunden anpassen, in deren Umgebungen präsent sind und sich öffnen, die anderen sehen bei den Bibliotheken eine Art von Alleinstellungsmerkmal und reagieren so selbstbewusst, dass die Kunden ja auf diese in manchen Bereichen angewiesen sind und deshalb auf jeden Fall kommen, auch wenn vielleicht nur der sogenannte "long tail" bedient wird. Ich denke beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, Bibliotheken können durchaus auch selbstbewusst ihre Rolle verteidigen. Jedoch ist der Druck bei kleineren wissenschaftlichen Bibliotheken und im Bereich der Öffentlichen Bibliotheken sicher größer. Gerade diese können sich nicht mehr als Paläste sehen, sondern müssen versuchen, in Kundennähe Zelte aufzustellen.